Wintergemüse: Ernten im Schnee

Der Winter – das ist die verlorene Jahreszeit in der heimischen Gemüseproduktion. Winterzeit ist verständlicherweise nicht Hauptwachstumszeit, aber sie ist doch Erntezeit. Und das scheinen wir vergessen zu haben. Damit wir rund ums Jahr Frischgemüse aus saisonalem, ressourcenschonendem Anbau essen und anbieten können, gilt es, rechtzeitig Pflanzen für den Winter anzuziehen und auszusetzen.

Vergessene Tradition

Als bei einer Spezialsalat-Sortensichtung im Jahr 2007 an der Versuchsaussenstelle Zinsenhof ein letzter Freilandsatz irrtümlich im Winter draussen blieb, weil er nicht mehr rechtzeitig geerntet werden konnte, ahnten wir an der Bundesforschungsanstalt Schönbrunn noch nicht, dass daraus eine eigene Bewegung werden sollte. Die Salate starben nämlich nicht ab, sondern blieben während des ganzen Winters frisch und grün – auch bei Temperaturen unter -15°C. Laut Lehrbuchwissen war das nicht vorgesehen, da hätten sie nämlich bei minus drei bis minus fünf Grad erfrieren müssen.
Das Prinzip des Wintergemüseanbaus ist ebenso naheliegend wie faszinierend: Viele unserer Gemüsearten sind wesentlich frostfester, als man bisher angenommen hat. Deshalb lassen sie sich ohne Heizungsaufwand mit einfachen Mitteln so kultivieren, dass sie während des ganzen Winters geerntet werden können. Dieses Anbauverfahren wird bisher eigentlich grossflächig nur beim Vogerlsalat (Feldsalat/Nüsslisalat) angewendet, funktioniert aber bei zahlreichen anderen Gemüsearten genauso gut. Dabei hat die Herbstaussaat und -pflanzung von Gemüse in unseren Breiten lange Tradition. Nicht nur beim Knoblauch ist es üblich, ihn ab Mitte Oktober zu pflanzen, in vergangenen Zeiten wurden auch Salate noch im Herbst ins Freie gesetzt, wie sich vielleicht ältere Gärtnerkolleginnen und -kollegen aus ihrer Lehrzeit erinnern können. Dazu verwendete man spezielle, robuste Sorten wie zum Beispiel die Kopfsalate ‘Neusiedler Gelber Winter‘ oder ‘Winterkönig‘ (beide Austrosaat). Die Pflanzen wurzelten im Herbst noch ein, gingen im Jugendstadium über den Winter, wo sie weniger frostanfällig sind als während der Kopfbildungsphase, und waren im Frühjahr um 1-2 Wochen früher erntereif.
Auch Karotten oder Dicke Bohnen säte man noch vor dem Winter. Sie keimten zeitiger, sobald es die Frühlingsverhältnisse zuliessen. Wenn man historische Gemüselehrbücher und Gartenratgeber-Seiten sichtet, findet man eine Fülle an Praxiswissen zur Lagerung und Überwinterung von Gemüse. In unserer Institutsbibliothek entdeckte ich beispielsweise ein Werk von J. Barfuß von 1888. Im Vorwort schreibt der Autor: «Kurzum, das Werkchen soll lehren, wie man mit seinem Gemüse am vorteilhaftesten im Winter verfährt.» Das erregte verständlicherweise meine volle Aufmerksamkeit. Viele alte Gartenbücher erschienen rund um Kriegszeiten, wo die ganzjährige Versorgung mit Lebensmitteln und die Bekämpfung von Nahrungsmittelknappheit hohen Stellenwert hatten.
Von Treibglocken, den sogenannten Cloches, ist da die Rede, die man zur Verfrühung über Gemüsepflanzen stülpte, ebenso von Mistbeetkästen und Erdmieten. Man setzte allen Fleiss und sehr viel Arbeitskraft ein, um entweder Lagergemüse im Winter nutzen oder Frischgemüse im Frühjahr möglichst früh wieder ernten zu können.
Diese Anbautraditionen und das Wissen um die Frostfestigkeit unserer Gemüsearten haben wir heute leider vergessen. Das Konzept einer Winterfrischernte ist aber auch in der alten Literatur nur eingeschränkt zu finden. Dabei verwundert es schon, dass seit den 1950er Jahren kaum gezielte Forschungsarbeiten zu diesem Thema gemacht wurden. Anscheinend machen wir uns im Lebensmittelhandel bis heute lieber von Importen oder von energieintensiv produzierter Glashausware abhängig, als das biologische Potenzial unserer Kulturpflanzen gezielt zu nutzen.

Saisonalität

Der heutige Lebensmittelhandel scheint tatsächlich vom Wechsel der Jahreszeiten völlig unbeeindruckt zu sein. Sommers wie winters finden wir im Supermarkt das volle Gemüsesortiment an Salaten, Gurken, Tomaten und Paprika. Nur der Blick aufs Kleingedruckte am Etikett zeigt uns die gewaltigen Unterschiede bei der Herkunft. So ist der Winter im Handel die Jahreszeit der Gemüseimporte aus südlichen Ländern oder der heimischen Ware aus geheizten und oft künstlich beleuchteten Gewächshäusern. Beides ist eine energieintensive Angelegenheit mit allen ökologischen Auswirkungen, die uns die Freude an den gut bestückten Regalen verderben können. So zahlen wir mit aufwändiger Technik und ressourcenfressender Logistik auch ökonomisch einen hohen Preis für Frischprodukte, die wir mit wesentlich einfacheren Mitteln gewinnen könnten.
Es geht auch ganz anders! Nach 14 Jahren intensiver angewandter Forschungsarbeit an unserer Versuchsstation Zinsenhof im niederösterreichischen Mostviertel und in der «City Farm» Augarten mitten in Wien können wir sagen: Viele Gemüsearten sind wesentlich frostfester, als es ihnen offiziell zugestanden wird.

Asia-Salate wie Pak Choi, Mizuna oder Blattsenf sind ideale Wintergemüse, die wesentlich frostfester sind, als es in den Lehrbüchern steht.


Zahlreiche eigene vertiefende Versuche zeigten, dass eine Vielfalt an Salaten, Salatkräutern, Wurzel- und Knollengemüsen eine deutlich höhere Frostfestigkeit aufweisen, als man das bisher für möglich gehalten hat. Mit 77 verschiedenen Gemüsearten führten wir erfolgreiche Anbauexperimente durch und entwickelten Kulturverfahren zur Winterfrischernte.
In den letzten drei Jahren konnte ich, unterstützt durch Fördermittel aus der EU, gemeinsam mit Bio Austria ein österreichweites Anbauprojekt durchführen. Umfassende Anbauversuche auf sieben direktvermarktenden Biobetrieben und auf diversen Versuchsstationen vom alpinen Westen bis zum kontinentalklimatischen Osten und zur sonnigen Alpensüdseite zeigten, dass so ein konsequent ressourcenschonender, komplett heizungsfreier Wintergemüsebau in ganz Österreich möglich ist. Dieser radikal alternative Gegenentwurf zu einer immer intensiver werdenden, industrialisierten Landwirtschaft stösst bei kritischen KonsumentInnenen heute auf mehr Interesse denn je.

Wintergemüse-Vielfalt

Wintergemüse kann man in verschiedene Kategorien einteilen, je nach botanischer Verwandtschaft oder auch Entwicklungsgeschwindigkeit bzw. Wuchstyp.
Da gibt es die Klassiker fürs Freiland, die schon den ganzen Sommer auf dem Acker verbracht haben und über den Winter einfach stehen bleiben. Rosenkohl und Grünkohl zählen ebenso zu den extrem frostfesten Wintergemüsearten wie Lauch oder Zuckerhut. Innovative Winterkandidaten sind Butterkohl (eine Wirsing-Variante), Palmkohl, Ewiger Kohl (ein mehrjähriges Kohlgemüse); auch die Gruppe der Zierkohle (Sorten: ‘Rote/Weiße Feder‘, ‘Crane White/Pink‘) schmeckt im Winter köstlich. Sie alle werden ab April angebaut und ab Juni ausgepflanzt. Weniger robust, aber oft bis Weihnachten noch durchaus gut nutzbar sind Mangold (schweiz. Krautstiel, eine Rübenart), Brokkoli, Endivie (eine Zichorie) und Knollensellerie.

Mehrjährige, völlig frostfeste Salatkräuter werden als sogenannte Perma-Veggies dauerhaft ausgepflanzt. Sie bilden nach Jahren kräftige Stöcke und dichte Bestände. Die Ampfer (Sauerampfer, Schildampfer) und Spezialzwiebelgewächse wie die Winterheckenzwiebel oder der Schnittknoblauch können fast ganzjährig, vor allem aber in den ausgehenden Winterwochen beerntet werden. Sie sind vollkommen winterfest. Pflegeextensität, Ertragssicherheit und dauerhafte Robustheit sind als Vorteile dieser mehrjährigen Perma-Veggies gegenüber den gängigen einjährigen Gemüsekulturen zu nennen. Es kommt ja bei Frischsalaten nicht auf die Kalorienmenge, sondern auf die lebendig-reichhaltigen ‹Frischzellen› an. Einjährige Salate und Salatkräuter fühlen sich nur unter Folie oder Glas im Winter wohl. Geschützt werden müssen sie nicht vor eisigen Frostnächten, sondern vor winterlichen Niederschlägen, denn im Winter verschimmeln und verfaulen mehr Pflanzen als erfrieren. Ausser dem Klassiker Nüsslisalat kann man ab August Asia-Salate, Rucola, Winterpostelein, Barbarakresse oder Hirschhornwegerich aussäen. Bei den Gartensalaten eignen sich vor allem Baby- und Multi-Leaf-Sorten, die raschwüchsig und frostfester sind. Auch Pflücksalate wie Lollo rossa/bionda oder Eichblatt-Sorten überstanden in unseren Versuchen Frostnächte von unter -11°C. Sie sind eher zu empfehlen als der klassische Kopfsalat. Bei den Gewürzkräutern sind es Petersilie, Schnittsellerie, Garten-Kerbel, Blattkoriander oder Schnittlauch, die uns im Winter frisch zur Verfügung stehen.
Die klassischen Wurzelgemüse wie Rote Rüben (Bete), Karotten oder Pastinake werden traditionell im Spätherbst gerodet und meist über Winter in Kühlräuumen gelagert.

Hochbeethaube: Einige Sorten ertragen die Kälte, nicht aber Schnee und Durchnässung.

Erdkeller oder Erdmieten bieten eine energieextensive Alternative. Erdmieten werden an schattigen Stellen entweder bodeneben oder bis zu 30 cm tief angelegt. Auf einer Drainageschicht aus Sand wird das Gemüse so aufgeschichtet, dass sich im Querschnitt eine dreiecksförmige Schüttung ergibt. Darauf kommt eine 10–20 cm starke Erd- oder Sandschicht, eine etwa 30 cm dicke Strohauflage und obendrauf wiederum ca. 15 cm Erde. Dieser Aufbau garantiert Schutz auch vor strengen Frösten von -20 °C.

Winter-Ernte

Ein Geheimnis erfolgreichen Wintergärtnerns liegt zweifellos in der Wahl der richtigen Zeitpunkte für das Säen und Pflanzen. Eliot Coleman nennt das in seinem Handbuch Wintergärtnerei so treffend den biologischen Imperativ. Ist man zu früh dran, entwickelt sich unser Gemüse so rasch, dass es schon vor dem Winter abgeerntet werden muss. Lässt man sich aber zu viel Zeit, dann haben wir im Winter zwar frisches Grün, aber leider nur als ästhetisches Vergnügen, denn für einen vernünftigen Ernteertrag ist noch nicht genug da.

In vielen Versuchen konnten wir Anbaudaten gewinnen, die Anhaltspunkte liefern, wann welches Gemüse für die Winterernte am besten angebaut bzw. ausgepflanzt werden sollte. Je nach geografischer Lage gibt es verständlicherweise Verschiebungen von regional etwa plusminus einer Woche. Noch stärker wirkt sich der Witterungsverlauf aus, der von Jahr zu Jahr erheblich schwanken kann. Die letzten Jahre bescherten uns in unseren Breiten oft milde Winter mit nur vereinzelten, verkürzten Kälteperioden. Wir beobachteten oft einen verlängerten Herbst, dafür aber Frostphasen ab dem Jahreswechsel. Die winterlichen Tiefsttemperaturen unterschritten in vielen Landesteilen -10 °C kaum oder nur sehr kurzzeitig. Pflücksalate für die Ernte von November bis Jahreswechsel im ungeheizten Folienhaus werden Ende August ausgesät und Ende September gepflanzt. Noch später, nämlich mit einer Aussaat Mitte bis Ende September und einer Pflanzung Mitte Oktober, kann man dran sein, wenn man Ende Februar oder im Laufe des Monats März des Folgejahres Salate ernten möchte. Als gut wintertauglich haben sich die krispigen Blattbatavias wie ‘Solasie‘ oder ‘Ostralie‘ (beide Rijk Zwaan) erwiesen. Blattpetersilie wird ebenfalls geschützt für den Winter extra Ende August bis Anfang September gesät. So hat man den ganzen Winter über frisches Grün. Ältere Bestände neigen dazu, im Winter zu vergilben. Radieschen mit rascher Entwicklung und gleichmässiger Ernte wie ‘Rosetta F1‘ (Bejo) oder ‘Vienna F1‘ (Austrosaat) sät man Ende September ins Folienhaus und kann dann noch vor Weihnachten ernten. Oder man baut sie gleich im Jänner an, was eine Ernte im Laufe des März erlaubt. Bundkarotten sind ein wunderbares Wintergemüse für Weihnachten, das im Freiland allerdings schon bis Mitte August ausgesaät werden muss. Keimung und Jugendentwicklung verlaufen so langsam, dass die Wurzeln sonst vor dem Winter nicht mehr zumindest fingerdick werden.

Pflegemassnahmen im Winter

Im Winter ist in den Gemüsekulturen nicht viel zu tun. Vor allem wird geerntet. Schädlinge treten kaum auf. In warmen Herbstwochen können noch einige Blattläuse aktiv werden, ohne jedoch wirklich gefährlich zu wirken. Unangenehm können Beikräuter wie Vogelmiere oder Hirtentäschel werden, die auch im Winter üppiges Wachstum zeigen. Sie sind aber selbst essbar und können mit der biologischsten aller Bekämpfungsmassnahmen unter Kontrolle gebracht werden: aufessen!
Gegossen wird winters im Folientunnel sehr kontrolliert, je nach Bodentyp nur alle 6-8 Wochen. Auf sandigen Böden muss man vor allem im ausgehenden Winter mehr als auf lehmigen darauf achten, dass das Blattgemüse nicht vertrocknet. Auf schwereren Böden besteht die Gefahr der Bodenvernässung, was Fäulniskrankheiten hervorrufen kann. Salate sollten mit ausreichend Abstand voneinander gepflanzt werden, damit sie während des gesamten Winters luftig stehen. So sind Tisch und Beet in dieser fälschlich so bezeichneten ‹toten› Jahreszeit reichlich mit echt saisonalem Gemüse gedeckt.

Wolfgang Palme von der Höheren Bundeslehr- und Forschungsanstalt für Gartenbau Schönbrunn in Österreich.

Dieser Text ist bereits in der Ausgabe 1/2020 der Zeitschrift Kultur und Politik erschienen. Mehr Informationen unter https://www.bioforumschweiz.ch/kultur-und-politik/


1 Antwort
  1. Sarah Ziegenhorn
    Sarah Ziegenhorn sagte:

    Eine positive Überraschung hatten wir in unserem Garten dieses Jahr.

    Ende August hatten wir die Herbstrüben Bicolor (Runde Weissrotköpfige, Brassica rapa var. rapa) ausgesät, denn zu dieser Zeit gibt es keinen Madenbefall. Durch den milden Winter bis Februar konnten zuerst die größeren Rübchen geerntet werden und auch die kleineren Rübchen sind über den Winter noch so viel gewachsen, dass sie eine Faustgröße erreicht haben.

    Nun kamen im Februar 20 cm Schnee und Temperaturen um die -20 °C für eine Woche und wir dachten nun sind die letzten Rübchen hinüber… aber sie sind erstaunlicherweise immer noch so schön zart, wie im Herbst.

    Auf dem Saatguttütchen steht, dass die Rübchen mäßig frosthart wären und zum Winterverbrauch eingelagert werden sollten.

    Die Schneedecke von 20 cm wird dazu beigetragen haben, dass die Herbstrübchen den starken Minustemperaturen Stand halten konnten. Für den Fall, dass es tiefe Minustemperaturen ohne Schnee gibt, werden wir eine Abdeckung mit Stroh und Fließ ausprobieren.

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