Blaue Wunder und grüne Knospen

«Schlaf ist nur was für Anfänger», so unser Motto schon während des Studiums. Und um sicher niemals Anfänger sein zu müssen, haben wir, Anna und Sebastian Jenni, als Quereinsteigende auf Anfang 2019 einen Landwirtschaftsbetrieb in Oberkulm im Kanton Aargau gekauft und unser zweites Kind zur Welt gebracht. Intensiv und aufregend, aber auch ein bisschen gaga, wie wir unseren eigenen Lebensentwurf gerne kommentieren. Heute, zwei Jahre nach der Betriebsübernahme, wissen wir: Zu einer ausserfamiliären Hofübernahme gehören Blauäugigkeit genauso wie ein blaues Auge. Dafür wartet das Blaue Wunder.

Unser Hof umfasst 15 ha Eigenland, das meiste davon ist Dauergrünland. Ein paar wenige Parzellen sind Äcker mit getreidebetonter Fruchtfolge. In zwei Folientunnels und einigen Beeten im Freiland bauen wir das Gemüse für unser Gemüse-Abo an, welches wir einmal wöchentlich zu verschiedenen Depots liefern. Der Kundenstamm umfasst aktuell etwas über 50 KundInnen, Tendenz steigend. Im Stall stehen Mutterkühe der Rasse Rätisches Grauvieh mit ihren Kälbern und die Rinder des vorhergehenden Jahres. In der umgebauten Remise halten wir Schwäbisch Hällische Landschweine, zwei Sauen und einen Eber sowie ein paar Mastschweine. Alles wird direkt vermarktet. Die Schweine verbringen die Vegetationszeit, genauso wie die Kühe, draussen. Um die anfallenden Nährstoffe gut zu verwerten, rotieren wir die Schweineweide innerhalb der Gemüseparzelle und beweiden die Flächen immer vor den Kartoffeln mit Schweinen, dem unerschütterlichen Glauben folgend, dass die Schweine sich an den Drahtwürmern schön satt fressen. Eigentlich arbeiten wir noch da- ran, dass die Grünfärbung unserer Daumen jene hinter unseren Ohren ablöst. Aber an Zuversicht und Motivation fehlt es nicht, jetzt im Februar erarbeiten wir den diesjährigen Gemüseplan.

Oft sitzen wir angestrengt über einem Wochenplan und takten die Woche mit allen Hof-to-dos, beiden externen Jobs und der Kinderbetreuung, wohl wissend, dass alles anders kommen wird. Der Betrieb ist eine Hydra. Mit jedem Projekt, welches wir fertigstellen, eröffnen sich zwei weitere. Mindestens. Und immer sind da diese Ecken, die unbeachteten, welche nach einem Besen dürsten. Und die Schmiernippel. Und die Buchhaltung. Und dann kommt manchmal die Frage auf, wozu wir uns für diesen Weg entschieden haben. Weil wir das Blaue Wunder suchten? Wir mögen den Grenzbereich, die unterschiedlichen Blickwinkel und wie sie das Gesicht einer Sache beeinflussen.

Als Umweltingenieure freuen wir uns über die Vögel, die in den selbstgebauten Nistkästen auf den Hochstammobstbäumen brüten. Und als Bauern schätzen wir es beim Futterbau nicht, um knorrige Bäume zirkeln zu müssen, unter denen das Gras kaum wächst und deren wenige von Würmern verschonte Früchte die Säuretoleranz der Kunden überstrapaziert. Wir haben im letzten Jahr elf Apfelbäume gepflanzt. Für dieses Jahr haben wir 15 Kirschbäume bestellt. Der Fall ist klar, die Vögel sollen bei uns einziehen. Gerade arbeiten wir an einem neuen Projekt: ein fahrbarer Hühnerstall. Unsere Tochter wünscht sich zum fünften Geburtstag fünf Hühner. Und wenn sie gefragt wird, was für Hühner sie denn bekomme, sagt sie: «Bio Hühner, dänk!» Mission accomplished.

Es ist ein Phänomen, ein Paradoxon. Vielleicht hat es mit Raumkrümmung zu tun, aber irgendwie geht es immer. Wirklich immer. Bisher, so stellen wir von Zeit zu Zeit fest, geht es sogar sehr gut. Und wir verfolgen die grossartigen Leistungen unserer BerufskollegInnen und stellen fest: Die Baurerei hat Suchtpotenzial! Wenn ich heute einen Grund nennen müsste, warum es sich absolut lohnt, einen Hof zu bewirtschaften, ist es wohl die Lebendigkeit. Die Lebendigkeit, in der man sich bewegt, die man schafft. Die Lebendigkeit als Selbstverständnis und Basis aller Taten. Aber auch die eigene Lebendigkeit, die bedingungslos jeden Tag aufs Neue gefordert wird. Und wenn es um einen wächst und lebt, ist die Chance gross, dass man selber wächst und lebt, und das ist beruhigend und eine gute Sache.

Anna und Sebastian Jenni, Aargau, 2021

Text schon erschienen in “Kultur und Politk 1/21” https://www.bioforumschweiz.ch/kultur-und-politik/

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