Artikel: Mit regionaler Vertragslandwirtschaft gegen Food Waste

Bis zur Hälfte aller Lebensmittel landet im Müll statt im Magen. Bei der Suche nach Lösungen stossen Grossverteiler und Direktvermarkter an Grenzen. Die regionale Vertragslandwirtschaft hingegen lässt Lebensmittelverschwendung gar nicht erst entstehen.
Lebensmittelverschwendung – auch als Food Waste bezeichnet – ist nicht neu. Jedoch rückte das Thema in den letzten Jahren immer mehr in das öffentliche Bewusstsein. In Medienbeiträgen, Kinofilmen, Büchern und an Konferenzen werden Fakten aufgedeckt, wird nach Ursachen und Lösungen gesucht. Es gibt eine öffentliche Empörung über die offensichtliche Ungerechtigkeit, dass die Verteilung der Lebensmittel global nicht funk- tioniert. Über eine Milliarde Menschen sind unter- oder mangelernährt, während fast die gleiche Anzahl Menschen übergewichtig ist.
Der Deutschschweizer Verband der regionalen Vertragslandwirtschaft (RVL) war im Juni des letzten Jahres an der Konferenz «Strategien gegen Food Waste» an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften HAFL in Zollikofen mit einem Informa- tionsstand vertreten. Hauptsponsor der Konferenz war die Migros, die Diskussion verlief dementsprechend im konventionellen Rahmen. Den TeilnehmerInnen wurde einerseits bewusst, dass ein Knackpunkt die fehlende Wertschätzung und zunehmende Entfremdung der KonsumentInnen zu den Nahrungsmitteln und deren Produktion ist. Andererseits war zu wenig Offenheit vorhanden, die Lebensmittelverschwendung als Symptom unseres Wirtschaftssystems zu betrachten und zu diskutieren. Eine zentrale Frage stand schliesslich im Raum: Auf der einen Seite ist der Acker, auf dem Nahrungsmittel produziert werden, auf der anderen Seite eine Gruppe von KonsumentInnen – Wie ist es nun möglich, dass die gesamte Menge an Produkten ohne Verluste an die KonsumentInnen weitergegeben werden kann?
Die regionale Vertragslandwirtschaft setzt bei dieser Frage an. Ihre Grundidee: Entweder wird die gesamte Ernte eines Gemüseackers oder Hofes an die Mitglieder der Konsument- Innen-ProduzentInnen-Gemeinschaften verteilt oder eine definierte Menge an Produkten an eine beständige Anzahl von KonsumentInnen weitergegeben. Die Grundsätze der re- gionalen Vertragslandwirtschaft stellen zugleich vier Strategien dar, um Lebensmittel- verschwendung von Anfang an zu vermeiden.
Preise abschaffen
Produktbezogene Preise orientieren sich am aktuellen Verhältnis von Angebot und Nach- frage. Durch verschiedene Einflüsse (Wettersituation, Import, Lebensmittelskandale usw.) sind Angebot und Nachfrage variabel. Es muss eine ständige Überproduktion erzeugt werden, um die Preise konkurrenzfähig zu halten und trotzdem den gesamten Produktionsbetrieb finanzieren zu können. Dies führt unweigerlich zu permanentem Food Waste.
Die regionale Vertragslandwirtschaft kennt keine Preise für die Lebensmittel, sondern finanziert direkt die Produktion dahinter. Die vollen Produktionskosten werden berechnet, und mit den LandwirtInnen werden Betriebsbeiträge oder Flächenpauschalen vereinbart. Die beteiligten KonsumentInnen bezahlen für die einzelnen Produkte keine Preise, sondern finanzieren die Produktion – alle Kosten, die zu ihrer Entstehung führten. Auch die/der LandwirtIn ist nicht mehr auf die ertragreichsten und transportfähigsten Gemüse- oder Getreidesorten fixiert, sondern die Gesamtproduktion steht im Zentrum. Dadurch bleibt jedes einzelne ernährungsphysiologisch einwandfreie Ernteprodukt für den Genuss attraktiv. Alles wird verwertet, ohne dass für eine Partei Verluste (Preiszerfall) oder zusätzliche Kosten (Kaufpreis) entstünden.

Treue halten

Ein permanent ausgedehntes Supermarkt-Sortiment an Lebensmitteln – mittlerweile auch in Bio-Qualität – suggeriert KonsumentInnen spontane Kaufentscheidungen ohne jeglichen Bezug zu Saisonalität und Herkunft. Dieses Alles-Immer-Angebot kann nur durch eine ständige Überproduktion aufrechterhalten werden: Die Regale müssen bis zum Verkaufsschluss gefüllt sein – «der Kunde» verlange dies, wird vom Detailhandel argumentiert.
In der regionalen Landwirtschaft entscheiden sich die KonsumentInnen für «ihre» Landwirtin oder «ihren» Gemüsegärtner und bleiben ihm oder ihr treu – jeweils mindestens für ein Jahr. Die Ernte wird gleichmässig und in regelmässigen Abständen unter den KonsumentInnen verteilt. So ist eine relativ genaue Jahresplanung möglich, mit Vorteil unter Einbezug der KonsumentInnen. Kontinuität und Verbindlichkeit verhindern einen ständig variierenden Preisdruck und eine direkte Konkurrenzierung. Die Lebensmittel kommen ohne Verluste und erst noch sehr frisch bei den KonsumentInnen an.

Produktion mittragen

Heute sind Produktion und Konsum entkoppelt. Der Bezug zu den Lebensmitteln im Ladenregal ist abstrakt und anonym. Durch den fehlenden Bezug zur Produktion fehlt logischerweise auch das intuitive Vertrauen in das Produkt. Via Werbung, Ästhetik, Herstellerangaben und Labels muss ein Ersatzvertrauen hergestellt werden. Wo dies nicht gelingt, werden die Produkte gemieden. So entsteht viel Food Waste.
In der regionalen Vertragslandwirtschaft wird die Produktion von den KonsumentInnen mit- getragen. Sie beteiligen sich aktiv an der Entscheidung und Planung, was unter welchen Bedingungen und in welchen Mengen produziert werden soll. Weiter wird durch die praktische Mitarbeit im Betrieb eine direkte Verbindung zwischen der Herstellung von Lebensmitteln und dem Konsum geschaffen. Das Vertrauen zu den LebensmittelerzeugerInnen und die Wertschätzung der Lebensmittel werden durch persönliche Erfahrungen gefördert. Diese Haltung hilft Food Waste zu vermeiden.

Schönheitswahn überwinden

Lebensmittel werden nach immer übertriebeneren Ansprüchen kalibriert und standardi- siert: nach Grösse, Aussehen, Form, Farbe, Transport- und Lagerfähigkeit. Die landwirt- schaftliche Produktion von Lebensmitteln kann unmöglich alle Ernteprodukte nach die- sem Standard herstellen. Somit fängt Food Waste bereits bei der Produktion an, wo bis zu 50% der Ernte (z.B. bei Kartoffeln) schon auf dem Feld aussortiert werden und überhaupt nicht auf den Markt gelangen.
Bei der regionalen Vertragslandwirtschaft werden alle ernährungsphysiologisch ein- wandfreien Zucchetti, Pastinaken, Krautstiele usw. unabhängig von der Ästhetik an die KonsumentInnen verteilt. Zudem sind die Ansprüche an Transport- und Lagerfähig- keit viel tiefer, weil die Ernte frisch vom Feld auf äusserst kurzen Transportwegen direkt zu den KonsumentInnen gelangen. So wird Food Waste vermieden. Geschmack, Qualität und Nährwert eines Lebensmittels rücken wieder in den Fokus.
Eine aktuelle Studie über die Klima- und Energiebilanz des RVL-Betriebs ortoloco in Dietikon zeigt, dass ortoloco trotz extensivem Anbau viele Menschen ernähren kann. Der reale Ertrag an Gemüse ist zwar geringer als bei herkömmlichen Bio- oder ÖLN- Betrieben. Gründe dafür sind eine geringere Düngung, wenig Bewässerung und die Verwendung von samenfesten Sorten. Diese Tatsache wird jedoch wieder wettgemacht durch die Ernte und Verteilung des gesamten Ertrages. Auf Betrieben, die ihre Produkte vermarkten, verbleibt ein Teil der Ernte auf dem Feld, wenn die Normgrösse nicht erreicht wird oder ein zu grosses Marktangebot herrscht.

Enger Spielraum für Grossverteiler

An der Food Waste-Konferenz haben die Grossverteiler, Detailhändler und Konsumen- tenorganisationen aufgezeigt, mit welchen Massnahmen sie die Lebensmittelverschwen- dung verringern wollen. Ihr Spielraum ist jedoch beschränkt, da sich Lieferanten und Grossverteiler in einem System bewegen, das auf gegenseitiger Konkurrenz beruht. Nur wer die schönsten Karotten hat und die Regale bis zum Ladenschluss füllt, kann die KundInnen für sich gewinnen, lautet der Tenor. So werden denn auch die KonsumentInnen stark in die Pflicht genommen und verschiedene Sensibilisierungskampagnen durchgeführt. Verlangt wird, dass die KundInnen ihre Einkäufe besser planen, dass sie Reste besser verwerten, und dass sie bei der Genussbarkeitsbeurteilung eines Lebensmittels nicht nur auf das Ablaufdatum und das Äussere achten, sondern auch ihre sensorischen Fähigkeiten einsetzen.
Diese Massnahmen führen jedoch nur bedingt zum Erfolg. Obwohl viele landwirtschaftliche Produkte, die den Standards nicht entsprechen, in der Gastronomie und in der Produktion von Convenience-Food verwendet werden, bleibt ein Grossteil bereits bei der Ernte auf dem Feld liegen. Lebensmittel, oft auch bereits verarbeitete, landen in der Biogasanlage oder direkt in der Kehrichtverbrennungsanlage, wenn sie nicht mehr verkauft werden können. Produktlinien, über welche «unförmiges» Gemüse zu einem günstigeren Preis verkauft wird, entschädigen die Produzierenden nicht ange- messen für die gleichbleibenden Produktionskosten. Institutionen, die noch einwandfreie, aber im Detailhandel nicht mehr verkaufbare Lebensmittel an Bedürftige verteilen, können einen kleinen Teil der Lebensmittelverschwendung auffangen. Ihre Existenz rüttelt jedoch nicht an der Tatsache, dass der Markt systematisch nach Nahrung im Überfluss verlangt. Sie sind eher Symptom als Lösung des Problems.

Grossverteiler der Zukunft

Wenn sich StädterInnen und LandwirtInnen zusammentun und sich selber mit Gemüse, Obst, Getreide, Milchprodukten usw. versorgen, stellt sich auch die Frage nach der Ver- arbeitung. Vieles lässt sich wieder relokalisieren. Sinnliche Arbeiten wie mosten, Sauerkraut einmachen und Brot backen werden wiederentdeckt, gemeinschaftlich und mit Freude erlernt und in die Nachbarschaften zurückgeholt. Diese gemeinschaftliche Versorgung mit Lebensmitteln, wie sie in der regionalen Vertragslandwirtschaft umgesetzt wird, ist jedoch kein nationalökonomisches Projekt, das die Beschaffung von Lebens- und Genussmitteln aus dem Ausland ausschliesst. Die Grossverteiler der Zukunft könnten die Rolle von Foodcoops, also Ein- kaufsgemeinschaften, einnehmen. Ein Beispiel ist die Genossenschaft El Comedor in Zürich, die den Einkauf von hochwertigen Lebensmitteln wie Pasta, Olivenöl oder Kaffee ohne Zwischenhandel nach ethischen Prinzipien organisiert. Coop z.B. würde sich auf ihren Ursprung als Konsumverein zurückbesinnen. An den Genossenschaftsversammlungen würden soziale und ökologische Kriterien aufgestellt, nach denen der Einkauf erfolgt und Partnerschaften gepflegt werden.
Gemeinschaftliche Selbstversorgung
RVL-Initiativen setzen der Verschwendung in einer Überflussgesellschaft eine gemeinschaftliche Selbstversorgung entgegen. Wichtig ist das sinnliche Erleben, das gemeinsame Tun und der Bezug zur Produktion. Ihr Potential zeigt sich, wenn RVL im Zusammenhang mit einer regionalen Lebensmittelversorgung gedacht wird. Indem ProduzentInnen und KonsumentInnen gemeinsam Strukturen ausserhalb der gängigen Marktlogik aufbauen, werden die Ursachen der Lebensmittelverschwendung angegangen und die mühselige Arbeit der Symptombekämpfung fällt weg.

Tina Siegenthaler, Zürich

Artikel erschienen in Kultur und Politik 1/ 2014 (Mit regionaler Vertragslandwirtschaft gegen Food Waste_K+P1.14)

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